Was ist der evolutionäre Vorteil am Helfen?

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Die Frage, weshalb es selbstloses (altruistisches) Verhalten gibt, wird seit Jahrzehnten diskutiert. Auf den ersten Blick scheint Altruismus nämlich vollkommen gegen die Regeln der Evolution zu gehen, weil einem Altruisten Kosten entstehen, ohne davon einen Nutzen zu haben. Er würde mit seiner selbstlosen Tat sich selbst nur schaden. Es ist heute allgemein akzeptiert, dass Selektion auf der Ebene des einzelnen Individuums stattfindet (Individualselektion), nicht auf Ebene von Populationen oder gar ganzer Arten (Gruppenselektion). Im Zentrum eines jeden einzelnen Lebewesens steht eine einzige Prämisse: die Weitergabe der eigenen Gene. Alles, was ein lebender Organismus demnach tut, geschieht aus reinem Eigennutz. Richard Dawkins geht in seinem Buch Das egoistische Gen (The selfish gene) sogar noch einen Schritt weiter und beschreibt den Körper eines Lebewesens nur als eine von seinen Genen konstruierte Überlebensmaschine mit dem Zweck, möglichst viele Kopien seiner Gene auszubreiten. Natürlich handeln Gene nicht wirklich egoistisch im klassisch-menschlichen Sinn. Gene sind schließlich nur Abschnitte auf der DNA ohne jegliches Bewusstsein. Dennoch sind die zentralen Gedanken Dawkins' heute weitgehend akzeptiert. Wenn wir Altruismus verstehen wollen, müssen wir uns deshalb stets fragen: welchen Vorteil kann der Altruist aus seinem eigenen Handeln ziehen?

Eine der ältesten Theorien dazu (die sehr detailliert in Dawkins' Buch abgehandelt wird) ist das Konzept der Verwandtenselektion (kin selection), das auf den britischen Verhaltensforscher William D. Hamilton zurückgeht. Hamilton erkannte, dass sich die biologische Fitness, das Vermögen eines Individuums seine eigenen Gene (besser: Allele) in den Genpool zu bringen, aus zwei Komponenten zusammensetzt. Da ist zum einen die direkte Fitness über eigene Nachkommen. Denn die eigenen Nachkommen tragen ja bekanntlich (bei sich sexuell vermehrenden und diploiden Lebewesen wie es die meisten Tiere sind) genau die Hälfte der eigenen Gene in sich. Aber wir haben nicht nur mit unseren eigenen Nachkommen Gene gemeinsam, auch mit anderen Verwandten teilen wir einige Gene. Man kann seine Fitness somit auch steigern, indem man anderen Verwandten (die ebenfalls einen Teil der eigenen Gene in sich tragen) hilft. Diese Komponente bezeichnet man als indirekte Fitness. Aus der Summe der direkten und der indirekten Fitness ergibt sich dann schließlich die Gesamtfitness eines Individuums. Das Konzept der Verwandtenselektion besagt also, dass man seine eigene biologische Fitness (über die indirekte Fitness) steigern kann, indem man Verwandten hilft. Aber wann lohnt sich altruistisches Verhalten und wann nicht? Hamilton erarbeitete hierfür eine Regel, heute als Hamiltons Regel (Hamilton's rule) bekannt. Sie lautet:



Hierbei steht c für die Kosten (costs), die dem Altruisten (dem Helfer) entstehen; b bezeichnet den Nutzen (benefits), der dem Geholfenen zuteil wird. Mit r bezeichnet man den Verwandtschaftskoeffizienten. Er ist ein Maß für die Nähe der Verwandtschaft und gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Allel in zwei Individuen durch gemeinsame Abstammung vorhanden ist oder etwas einfacher ausgedrückt, welchen Anteil der Gene die beiden Individuen aufgrund ihrer Verwandtschaft miteinander teilen. Er reicht von 0 (gar keine Allele gemeinsam, keine Verwandten) bis 1 (alle Allele durch gemeinsame Abstammung, in der Praxis kann man nur zu sich selbst einen solchen r haben oder aber zu einem eineiigen Mehrling). Eltern teilen (wie oben bereits erwähnt) die Hälfte ihrer Allele mit ihren Kindern, deshalb beträgt r zwischen Eltern und Kindern 0.5. Auch Vollgeschwister teilen die Hälfte ihrer Allele miteinander, weshalb r zwischen ihnen ebenso 0.5 beträgt. Man sieht also hieran schon, dass der Beitrag zur biologischen Fitness genauso groß ist, wenn ich einen eigenen Nachkommen aufziehe wie wenn ich dabei helfe, eines meiner Geschwister aufzuziehen. Mit abnehmendem Verwandtschaftsgrad nimmt dann der Verwandtschaftskoeffizient ab. Demnach "lohnt" sich altruistisches Verhalten umso mehr, je näher zwei Individuen miteinander verwandt sind. Gleichzeitig können bei näherer Verwandtschaft die Kosten des Altruisten höher ausfallen. Ein Beispiel: in einer Gruppe von Erdmännchen (Suricata suricatta) entdeckt ein Erdmännchen einen Feind, z. B. einen Raubvogel. Neben ihm spielen ein paar junge Erdmännchen. Handelt es sich um eigenen Nachwuchs oder um Geschwister, lohnt es sich für das Individuum, das hohe Risiko auf sich zu nehmen und die Aufmerksamkeit des Jägers auf sich zu ziehen und ihn so von den Jungen weg zu führen. Sind es aber z. B. Cousinen dritten Grades ist das eigene Risiko u. U. zu hoch, um es einzugehen, schließlich könnte das Erdmännchen bei dieser riskanten Aktion selbst gefressen werden.

Bei vielen sozialen Lebewesen hängt das Überleben stark von der Gruppe ab. Es kann sich dann lohnen, sich gegenüber den Gruppengenossen alturistisch zu verhalten, wenn man davon profitiert. Das kann auch dann der Fall sein, wenn die anderen mit einem selbst nicht verwandt sind. Auch hierzu ein Beispiel. Erdmännchen warnen einander bei Sichtung eines Feindes bekanntlich durch Laute, wobei einige Erdmännchen stets als "Wachtposten" abkommandiert sind. Die Wächter nehmen das Risiko auf sich, durch ihre Laute den Feind erst recht auf sich aufmerksam zu machen, während die anderen in die unterirdischen Gänge fliehen können. Aber auch der Wächter profitiert von seiner Aktion. Denn in dem ziemlichen Durcheinander fällt es dem Räuber schwer, sich auf ein einzelnes Erdmännchen zu konzentrieren und man selbst wird daher mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht Opfer.
Dass das eigene Überleben von der Gruppe abhängen kann und altruistisches Verhalten sich in der Gruppe lohnt, wird am deutlichsten, wenn man sich nur einmal die Gruppengröße betrachtet. In einer Gruppe aus zwei Tieren ist die Wahrscheinlichkeit, dass man selbst zum Opfer wird, ziemlich hoch (nämlich 50 %). Bei drei Gruppenmitgliedern wird man schon nur noch in 33 % der Fälle zum Opfer, bei vier Gruppenmitgliedern in 25 % usw. Je größer die Gruppe, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein anderes Gruppenmitglied zum Opfer eines Räubers wird und man selbst überlebt.

Ein ganz anderes Konzept verfolgt die Theorie vom reziproken Altruismus von Robert Trivers. Dieses Konzept lässt sich in Kürze etwa so zusammenfassen: wie ich dir, so du mir! Der Altruist geht gewissermaßen durch seine altruistische Tat in Vorleistung, um zu einem späteren Zeitpunkt im Gegenzug für sein Handeln belohnt zu werden.
Lange Zeit galt der Gemeine Vampir (Desomdus rotundus) als Paradebeispiel für reziproken Altruismus. Die Vampirfledermaus ernährt sich als eine der wenigen Arten der Fledermäuse tatsächlich vom Blut warmblütiger Säugetiere, üblicherweise dem der Rinder und Pferde der Farmer. Die Fledermäuse ruhen tagsüber in riesigen Kolonien in Höhlen und schwärmen nachts aus, um Nahrung zu suchen. Doch nicht immer haben die Fledermäuse Glück. Oft kehren sie in die Kolonie mit leerem Magen zurück. Aber Blut besteht zu einem großen Teil aus Wasser und ist deshalb wenig nahrhaft. Die Fledermäuse sind deshalb darauf angewiesen, regelmäßig zu fressen. Oft wurde beobachtet, dass eine Fledermaus, die selbst erfolgreich war, Blut mit einer erfolglosen Fledermaus geteilt hat. Sie teilte ihre Nahrung in der Hoffnung, dass ihre Artgnossin irgendwann das gleiche für sie tun würde, wenn sie selbst hungrig nach Hause käme und die andere an diesem Abend erfolgreich gewesen ist. Studien deuten darauf hin, dass die Bereitschaft zu teilen größer ist, wenn die Tiere vom Empfänger schon einmal eine Blutspende erhalten haben. Hier scheint aber auch die Verwandtschaft eine Rolle zu spielen, weshalb es in der Praxis sehr schwierig ist, reziproken Altruismus als alleinige Ursache für das Verhalten der Fledermäuse verantwortlich zu machen.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig

WalkingMoon123 
Fragesteller
 27.04.2020, 12:57

Dankeschön für deine Antwort 😊

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Helfen hat einen evolutionären Vorteil. M.W. hat sich George Price mit diesem Thema beschäftigt. Der Nachteil, den Selbstlose in ihrer Gruppe haben, lässt sich durch den Vorteil, den sie ihrer Gruppe als Ganzes verschaffen, ausgleichen. Es gibt einen Wettbewerb innerhalb einer Gruppe und auch zwischen verschiedenen Gruppen. Die Selektion findet auf mehreren Ebenen statt, so entsteht eine Balance zwischen Altruismus und Egoismus.


Darwinist  27.04.2020, 09:10

Selektion findet aber immer auf der Ebene des Individuums statt. Deshalb muss man selbstloses (altruistisches) Verhalten auch danach bewerten, welchen Nutzen das Individuum konkret hat. Ein Individuum wird sich nicht altruistisch verhalten, nur weil die Gruppe davon profitiert. Es muss schon selbst etwas davon haben. Für den Menschen, der auf seine Gruppe angewiesen ist, ist es natürlich vorteilhaft, in die Gruppe zu investieren, weil das seine eigene Überlebensfähigkeit ebenfalls erhöht.

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Nicht alles, was wir tun, hat einen evolutionären Vorteil. Beispielsweise ist es alles andere als gut für den Körper oder die biologische Fitness, sich regelmäßig zu besaufen, und trotzdem tun das sehr viele Menschen.

Was das Helfen angeht: Ja, Helfen kann Glückshormone freisetzen, wenn die Person, der man hilft, die Hilfe wertschätzt und sich bedankt, was wiederum dein Selbstwertgefühl verbessert.

Sich gegenseitig zu helfen, hat oft genug auch einen evolutionären Vorteil. Einerseits ist es gut möglich, dass Leute, denen du hilfst, später bereit sind, dir zu helfen. Dazu passt der Spruch "Eine Hand wäscht die andere". Wenn Leute in einer Gruppe sich gegenseitig helfen, haben alle davon einen Nutzen.

Wenn die Person, der du hilfst, mit dir verwandt ist, steigerst du sogar direkt deine eigene biologische Fitness, da sie sich DNA mit dir teilen. Deine Geschwister, Eltern und Kinder haben im Schnitt 50% deiner DNA, deine Großeltern, Tanten, Onkel und Enkelkinder haben immerhin 25% deiner DNA. Wenn du ihnen hilfst, ihr Erbgut weiterzugeben, hilfst du indirekt auch, dein eigenes Erbgut weiterzugeben. Deshalb sind nicht nur Menschen, sondern auch andere Tiere oftmals bereit, ihr eigenes Leben zu riskieren, um Familienmitglieder zu beschützen. In der Verhaltensbiologie nennt man das Altruismus.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Abitur 2016

Ja, zum Einen gibt es ein gutes Gefühl aber viel wichtiger ist dass es die Gruppendynamik stärkt. Der Mensch ist ein Gruppentier und die Individuen die anderen geholfen haben, haben viel zum Überleben der Gruppe beigetragen und so die Beziehungen zu anderen Gruppenmitgliedern gefestigt, weshalb sie selbst mehr Unterstützung erhalten haben.

hilfsbereitschaft gegenüber artgenossen ist ein meist angelerntes, weniger ein ererbtes verhalten, weil es dem individuum, nicht aber der ganzen art einen vorteil verschafft. evolutionär betrachtet ist hilfsbereitschaft keine eigenschaft, die in der fortpflanzung selektiv eine rolle spielt.

das sind in der regel physische und keine psychischen merkmale, die eine veränderung einer art bewirken können.


VeryBestAnswers  26.04.2020, 18:13

Das stimmt so nicht. Viele Tiere leben in sozialen Gemeinschaften, die nur funktionieren, wenn alle zusammenarbeiten und sich gegenseitig helfen. Dann ist die Hilfe notwendig für den Fortbestand der Art, und wird i.d.R. vererbt.

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Darwinist  27.04.2020, 12:34
@VeryBestAnswers

Es geht in der Evolution aber nicht um den Fortbestand der Art, sondern um den Fortbestand der eigenen Gene.

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VeryBestAnswers  28.04.2020, 04:31
@Darwinist

Stimmt, aber oft ist Helfen trotzdem von evolutionärem Vorteil. Indem eine Biene ihrem Staat hilft, hilft sie auch dabei, ihre eigenen Gene weiterzugeben, da alle Bienen in einem Bienenstaat verwandt sind und gemeinsame Gene haben.

Und auch wenn die Tiere nicht verwandt sind, ist es nützlich, anderen zu helfen, wenn die anderen im Gegenzug dir helfen. Du kannst dazu mehr herausfinden, wenn du nach der Spieltheorie suchst.

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Darwinist  28.04.2020, 09:05
@VeryBestAnswers

Ja, das ist natürlich richtig und ich stimme dir da voll und ganz zu. Mir ging es nur darum hervorzuheben, dass es in der Evolution nicht um den Fortbestand der Art geht.

Übrigens interessant, dass du die Bienen ansprichst. Bei ihnen kommt ja noch hinzu, dass die Arbeiterinnen gänzlich auf Fortpflanzung verzichten, was der Logik der Evolution erst mal widerspricht. Tatsächlich sind die Arbeiterinnen aber untereinander näher verwandt als mit ihrer Mutter (Königin), weshalb aus Sicht ihrer Gene mehr Geschwister tatsächlich sinnvoller ist als selbst Kinder zu bekommen.

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